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Hallo Papa,

mit dem fast abgeschlossenen Jahr 2023 kommen auch die Reflexionen über das Gelernte, insbesondere über mich selbst. Bevor die Sektkorken knallen und wir das Jahr 2024 begrüßen, möchte ich heute einige Worte an dich richten – Worte, die ich lange Zeit nicht auszusprechen vermochte.

Vielen Dank dafür, dass du nicht an mich geglaubt hast.

Heute stehe ich hier als stolze Frau, die ihre Weiblichkeit lebt, sich selbst liebt, so wie sie ist, und ihre eigene Schönheit erkennt. Ich weiß, dass du dir als Erstgeborenen immer einen Sohn gewünscht hast, aber heute kann ich diesen unterschwelligen Vorwurf endgültig hinter mir lassen.

Auch wenn du dir einen anderen Schwiegersohn gewünscht hättest, habe ich heute meinen Ehemann, der mich so sehr liebt, dass er jedes Jahr an unserem Hochzeitstag erneut Ja zu mir sagt und treffe jeden Tag Menschen, die mir Anerkennung und Wertschätzung entgegen bringen, für das was ich bin. Ich weiß, dass du das, wenn du es wüsstest, nicht wirklich nachvollziehen könntest, weil ich für dich immer ein unmöglicher Mensch war, den niemand mag. Aber immerhin hast du mich damals vor meiner ersten Hochzeit in 2020 in meinem Hochzeitskleid bei deiner Mutter stehen sehen. Und auch wenn du es damals vorgezogen hast, mich nicht zum Altar zu führen, dann kann ich dir nun in diesem Zuge noch versichern, dass mein Stiefvater diesen Job gewissenhaft für dich übernommen hat.

Den Rest meiner jetzigen Familie hast du ja an besagtem Tag bei deiner Mutter ebenfalls kennengelernt, und ich darf dir hier nun noch verraten, dass sich unser kleiner Cavalier prächtig entwickelt hat und unser kleiner Schatz ist, der mit uns um die Welt reist.

Das mit der Wohnung damals in Steinheim war auch ganz großes Kino, aber ich trage es dir natürlich nicht nach, denn, ja, heute ist die Welt mein Zuhause, in der ich mir jederzeit frei aussuchen kann, welche wundervollen Orte, Kulturen oder Köstlichkeiten ich mit meiner kleinen Familie als Nächstes sehen, kennenlernen und erleben oder probieren und genießen möchte.

Ich weiß, dass ich heute, wenn ich das erste Mal auf dich gehört hätte, wahrscheinlich immer noch in einem Wasserwerk mitten in der Pampa in der Nähe von Ulm sitzen würde, einen Laborkittel an und eine Hornbrille auf der Nase – obwohl ich bezweifle, dass ich den ersten Winter überlebt hätte. Beim Pendeln mit dem Fahrrad vom Bahnhof zum Werk hätte ich mir wahrscheinlich längst das Genick gebrochen. Aber ich weiß nun, dass du es damals nur gut gemeint hast.

Genau so gut, wie damals, als du mir zum erfolgreichen Abschluss meiner stattdessen gewählten Lehre zur Kauffrau im Einzelhandel mit Zusatzqualifikation Frischespezialistin gratuliert hast – ich bin mir nicht mal sicher, ob du jemals genau wusstest, zu was genau ich mich da ausbilden lassen habe, aber das spielt ja auch keine Rolle. Jedenfalls hast du mir damals ein Auto „geschenkt“ – wobei ich das, wenn ich den Wasserwerk-Job tatsächlich angenommen hätte, definitiv dort nötiger gehabt hätte (siehe Fahrrad-Genickbruch-Winter-Szenario) – aber was soll’s, die Geste zählte und war wirklich sehr großzügig.

Nun ja, zumindest so lange, bis ich mein geliebtes erstes Auto selbst nicht so weiter versichern wollte, wie du als der Schenker es gerne gehabt hättest. Dass dieses bescheuerte Auto, in dessen Verkauf sich dann natürlich auch noch mein einziger und bester kleiner Bruder so großzügig einmischen musste – wobei ich nach wie vor betone, dass ich es nie verkauft, sondern lediglich günstiger weiter versichert hätte – letztlich der Grund sein sollte, dass der Kontakt zu dir und ihm abbricht, das nenne ich, sagen wir es mal, Ironie des Schicksals.
Beruflich kann ich mich übrigens auch nicht beklagen. Heute kann ich nämlich vollkommen frei entscheiden, ob, wann, wo, was und mit wem ich arbeite und kann mich bei allem, was ich tue, kreativ voll und ganz entfalten.

Was ich dir und dem Rest deines Familien-Klans allerdings definitiv nie vergeben werde, ist die Art und Weise, wie ihr alle mit meinem Opa verfahren seid. Es mag sein, dass ich nicht im selben Haus gelebt habe, aber ich war mir nie zu schade, die Strecke regelmäßig zu fahren, um die beiden zu besuchen. Eure Entscheidung, Oma und Opa auf ihre alten Tage voneinander zu trennen, war armselig, und dazu stehe ich. Noch ein Grund, warum ich, wie meine Mutter auch, nach wie vor nicht im Geringsten bereue, den Namen bei meiner Heirat abgegeben zu haben.

Nein, heute bin ich endlich stolz auf mich, und wie gesagt, dir sehr dankbar dafür, dass du mich so behandelt hast, wie du es getan hast. Das mag komisch für dich klingen, aber letzten Endes bin ich auch deshalb heute so glücklich.

Als Kind wollte ich dir gefallen, es dir wenigstens nur einmal Recht machen können, aber nun vergebe ich dir, dass ich nie gut genug für dich war und entlasse dich endgültig aus deiner Vaterrolle, aus der du dich ja schon vor einigen Jahren selbstständig verabschiedet hast. Du schuldest mir nichts, und ich schulde dir nichts.

Alles Gute.